Vergessene Friedhöfe

Berlin hat derzeit 220 Friedhöfe, von denen noch 182 in Betrieb sind, die übrigen aber nicht mehr für Bestattungen genutzt werden. Im Landesbesitz befinden sich 84 Friedhöfe, die evangelische Kirche hat 117 und die katholische neun Friedhöfe. Zehn  fallen unter die Rubrik „sonstige” — es sind britische, jüdische, muslimische und russisch-orthodoxe. Die Zahl aber jener Gräberfelder, die seit der Entstehung Berlins vor 800 Jahren aufgelassen und in Vergessenheit geraten sind, wird auf über hundert geschätzt. Beispiele dazu:

Boxhagener Straße (Friedrichshain)

Hier wurden im Jahr 1771 böhmische Kolonisten angesiedelt, ihr Friedhof bestand bis vor Beginn des Ersten Weltkriegs. In den Jahren 2014 und 2015 wurden 554 Gräber untersucht. Man fand eine überraschend hohe Zahl von Kinderbestattungen. Die Knochen wurden später auf dem Friedhof Alt-Friedrichsfelde neu bestattet.

Armenfriedhof Pufendorfstraße (Friedrichshain)

Auf Google Map kann man die Baugrube deutlich sehen. Hier will ein Hamburger Investor an die 400 Wohnungen bauen. Bis zum Krieg war an dieser Stelle das Böhmische Brauerei, die von 1868 bis Kriegsende produzierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in dem stark zerstörten Komplex kein Bier mehr gebraut. Der umfunktionierte Lagerkeller bildete zwischen 1952 bis 1992 das größte Weinlager der DDR. Dass hier zwischen Pufendorf-, Frieden- und Diestelnmeyerstraße in den Jahren von 1800 bis 1881 Berlins erster kommunaler Friedhof war, weiß man noch. Hier wurden zunächst Cholera- und Pestopfer, später Berlins Arme begraben. Über die Zahl der Gräber und ihre Toten weiß man aber so gut wie nichts. Jetzt haben die Archäologen Zeit, diese Fragen zu klären, ehe die neuen Wohnungsbauten sich über das frühere Friedhofsgelände legen und es für immer zudeckeln. Die Reste der gefundenen und untersuchten Skelette werden auf einer Wiese des Friedhofs Plötzensee beigesetzt.

Dorotheenstädtischer Friedhof (Mitte)

2012 fand man hier alte Grabstätten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darunter waren auch Reste alter Erbbegräbnisse. Die Skelette wurden an anderen Stellen des Friedhofs neu bestattet.


Rummelsburg (Lichtenberg)

Die am Rummelsburger See 1853 gebaute Anstalt für Kranken-, Armen- und Waisenpflege hatte einen eigenen Friedhof. Vor dem Umbau zum Wohnviertel wurden 2012 mehr als 400 Skelette gefunden, die mehrheitlich auch anthropologisch untersucht wurden. Danach waren 204 der Toten Kinder, 82 Jugendliche und 96 Erwachsene, von denen nur ganz wenige älter als 60 Jahre geworden waren. Die Skelette wurden danach auf dem Zentralfriedhof Alt-Friedrichsfelde neu beigesetzt.

Nikolaikirche (Mitte)

Die Nikolaikirche war die erste und bedeutendste Pfarrkirche des mittelalterlichen Berlins. Archäologische Grabungen gab es an dieser Stelle zuletzt im Herbst 2009. Insgesamt wurden um die Kirche herum 670 Skelette in mehreren Schichten übereinander gefunden, deren Begräbnisse bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Die meisten lagen, wie das bei christlichen Begräbnissen üblich ist, in West-Ost-Ausrichtung. Auch ein Metallsarg war darunter, in dem unter anderem ein gläsernes Tintenfass gefunden wurde: wahrscheinlich handelte es sich bei dem im Alter von 50 bis 60 Jahre verstorbenen Mann um einen Schreiber. In einem anderen Grab mit zwei Kindern fanden sich Reste eines Spielzeug-Pferdchens aus Ton. Alle Knochen wurden später auf dem Georg-Parochial-Friedhof in Friedrichshain neu begraben.

Am Kesselpfuhl (Wittenau)

In dieser Straße wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ein jungbronzezeitliches Gräberfeld entdeckt. Auf dem Grundstück Am Kesselpfuhl 58 fielen Kindern in einer Baugrube Keramikscherben in die Hände. Es ist ein illustres Beispiel, wie viele noch unbekannte Gräberfelder und Friedhöfe Berlin zu bieten hat. Die erhöhte Bautätigkeit der letzten Zeit und der Wohlstand machen es möglich, dass die Archäologen ein Zeitfenster bekommen, Funde zu sichten und manchmal auch zu sichern.